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Lokführer als Geburtshelfer


Nach den Erzählungen einer Rangierleiters

Lange bevor ich in Deutschlang Rangierleiter wurde bin ich schon in Kasachstan Eisenbahn gefahren. Ich bekam sogar noch die Dampflokzeit mit und begann als Heizer. Später wurde ich Lokführer auf Maschinen wie z.B. der 2TE116. Das war damals so bei uns: man hatte zusammen mit seinem Beimann seine persönlich zugeteilte Maschine, nur die vier Schichten teilten sich diese Lok. So kannte man alle Schwächen und Vorlieben seiner "eigenen". Das war auch nötig, denn die Sitten waren hart: hatte man ein Problem auf der freien Strecke, musste man binnen 20 min wieder am Rollen sein. Wenn man das nicht schaffte, durfte man - wenn man Glück hatte - zwei Wochen irgend eine Löschegrube ausschippen. Es kam auch vor dass man die Prüfung wiederholen musste.

Eines Tages fuhren wir einen langen schweren Güterzug. Die Strecke lag im dichten Wald, in etwa 400 m Entfernung würde ein Bahnübergang kommen, da war Vorsicht angebracht - die Landsleute hatten ein anderes Verhältnis zu Gefahren.... Als ich aus dem engen Linksbogen in die Gerade einbog erkannte ich wenige Längen vor mir einen Lkw mit schwerer Ladung auf dem Gleis, nicht auf dem Übergang, nein, 200 m davor! Mir rutschte das Herz in die Hose, ich zog krampfhaft an allen Bremsventilen, die ich finden konnte und dann - mit unverminderter Geschwindigkeit - krachte es unter meinen Beinen (waren sie noch da?), die 120 t konnten nicht so tun, als sei es Fliegendreck, der da den Weg versperrte doch anstatt zu entgleisen hob sich die Maschine links an. Die Lok neigte sich bedrohlich nach rechts - ich sah uns schon auf der rechten Seite liegend in die Bäume krachen - und fiel wieder zurück auf die Füße!

Es brauchte Tage, bis meine Beine nicht mehr zitterten. Was hatte sich abgespielt? Einem einheimischen Lkw-Fahrer war der Weg bis zum Übergang zu weit gewesen (noch 200 m!), er überquerte das Gleis an einer "nicht so stark befahrenen" Stelle und blieb mit der schweren Stahlträgerladung an einer Hinterachse hängen. Was tut man da? Am besten erst mal zu Fuß nach Hause und Tee trinken. Naja, der Fahrer war halt Kasache...

Die Polizei war nicht so gelassen, sie verhaftete ihn. Er wurde, soweit ich mich erinnere, ziemlich hart bestraft.


Ein anderes Mal standen wir - wieder mit einem langen Güterzug - im Bahnhof, das Signal noch auf "Halt", als eine hochschwangere Frau mit ihrem Mann auf dem Bahnsteig auftauchte. Der Aufsichtsbeamte kam zu mir und erzählte mir, sie hätte schlimme Wehen, ich solle sie doch mit zur nächsten Stadt nehmen. Tja, die Wege waren weit, nicht jede Stadt hatte ein Krankenhaus und noch lange nicht jeder ein Auto. Und Personenzüge gab es fast so viele wie Krankenhäuser...

Nun, man war gewohnt zu helfen, wir schoben die Frau die Tritte hoch und als das Signal "Fahrt" zeigte, gab ich mein Bestes (natürlich tat ich das mit langen, schweren Güterzügen immer). Die Frau sah schon sehr nach Gebären aus, ich hatte ein wenig Not, ich müsse außer der Streckenbeobachtung vielleicht doch noch nebenbei entbinden. Dann wurde mir die Sache zu brenzlig. Ich ermahnte den vermeintlichen Vater die Strecke zu beobachten, während ich eine Zeitung ausbreitete und so ein provisorisches "Kreißbett" herrichtete. In der Tat kam ich so zu meiner ersten Entbindung und als die Fahrt zuende ging hatten wir ein Mädchen zur Welt gebracht - sozusagen eine geborene Eisenbahnerin!


Aber auch in der Dampflokzeit hatte ich mal ein interessantes Erlebnis, allerdings ein grausiges. Wir bereiteten die Maschine für die Nachtruhe vor. Der Meister kam, er war klein und korpulent, schob einen ziemlichen Bauch vor sich her, und ging in die Grube, um einige Schmiernippel zu bedienen. Ich konnte ihn durch die Bretter des Führerstandes sehen als er plötzlich wie von Sinnen aufschrie. Er war auf den Bauch gefallen, offensichtlich unfähig, wieder auf die Beine zu kommen. Er schrie, schrie wie am Spieß. Wir sprangen vom Bock und rannten um den Tender herum in die Grube und konnten uns noch immer keinen Reim auf die Geschichte machen. Mit pochendem Herzen stand ich nun hinter ihm - ich hatte damit gerechnet, ihn mit einer grausigen Verletzung vorzufinden, doch ich konnte überhaupt nichts derartiges erkennen! Es vergingen einige Momente, bevor er überhaupt in der Lage war sich umzudrehen. Kreideweiß im Gesicht, noch immer laut stöhnend hob er seine Hand, zitternd, und deutete nach oben, Richtung Feuerbüchse. Als ich nach oben schaute, verstand ich. Dort hing der abgeschnittene Kopf einer Frau...
Foto: Elmar Aliev, 2TE116-664

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